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344. Sprache. Gegenstand der Grammatik.

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Die Sprache ist der Ausdruck der Gedanken. Ein Gedanke entsteht in unserer Seele dadurch, dass Begriffe teils auf einander, teils auf den Redenden bezogen und zu einer Einheit verbunden werden. Tritt der Gedanke in die Erscheinung und nimmt gleichsam einen Körper an, d. h. wird der Gedanke durch die Sprache ausgesprochen, so werden die Begriffe durch Wörter bezeichnet, welche einen stofflichen Inhalt haben, und die Beziehungen teils durch die Flexion der Wörter, teils durch besondere Wörter, welche die Formen unserer Anschauung und unseres Denkens ausdrücken, als: Pronomina, Zahlwörter, Präpositionen und Konjunktionen. Die Begriffe bilden nur den Stoff des Gedankens, Seele und Leib aber wird dem Stoffe erst durch den Akt der Verbindung der Begriffe zu einer Einheit eingehaucht.

Da die Sprache Ausdruck der Gedanken ist, die Gedanken aber durch Sätze ausgedrückt werden, so springt in die Augen, dass die Grammatik nichts anderes ist als Satzlehre. Da nun ferner die Sprache nicht durch eine äussere künstliche Zusammensetzung des Einzelnen zu einem Ganzen, wie wir eine solche bei menschlichen Kunstgebilden sehen, entstanden ist, sondern sich mit ihrer ganzen Mannigfaltigkeit von Wort- und Redeformen, wie ein organisches Erzeugnis, aus einer Einheit von Innen heraus in naturgemässer Entwickelung gebildet hat2): so ergiebt es sich von selbst, welche

Aufgabe die Grammatik zu lösen hat. Diese Aufgabe besteht nämlich darin, dass sie von dem Satze in seiner einfachsten und ursprünglichsten Form ausgehe und darlege, wie sich diese Urform des Satzes allmählich in naturgemässem Fortschreiten bis zu dem Vollendetsten der Sprachdarstellung, der Periode, ausgebildet hat, und wie sich mit dieser Entwickelung des Satzes zugleich alle Erscheinungen der Sprache in ihren mannigfaltigen Formen entwickelt haben. Um aber den reichen Stoff der Grammatik übersichtlicher darzustellen, teilt man dieselbe in zwei Hauptteile, von denen der erstere das Wort und seine Formen für sich, der letztere aber das Wort und seine Formen in dem Satze selbst betrachtet. (Smyth 900)

1 Man hat es mit Recht aufgegeben, die Sprachformen aus logischen oder psychologischen Kategorien entwickeln zu wollen. Doch habe ich die allgemeinen Vorbemerkungen in § 344 und § 345 in der Hauptsache unverändert gelassen, weil sie mit der ganzen Anlage der Kühnerschen Grammatik aufs engste zusammenhängen. Der Herausgeber.

2 K. F. Becker ist der Erste gewesen, der in seinem Buche “Organismus der Sprache (II. Aufl. 1841)” den Gedanken, die Sprache sei ein organisches Erzeugnis der menschlichen Natur, wissenschaftlich behandelt hat; aber darin hat er gefehlt, dass er in dem Wesen der Sprache nur eine Seite derselben, die natürliche, auffasst. Denn der sinnliche Organismus der Menschen steht unter der Herrschaft des Geistes und dient dem Geiste als das Werkzeug seiner Äusserung. Auf dem Zusammenwirken des denkenden Geistes des Menschen und seines sinnlichen Organismus beruht also das Wesen der Sprache. Vgl. K. W. L. Heyses System der Sprachwissenschaft 1856, S. 58 ff.; Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772; W. v. Humboldts Einleitung zu der Schrift über die Kawisprache auf der Insel Java, Berlin 1836; C. Michelsens Philosophie der Grammatik, I. B., Berlin 1843.

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