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471. Begriff des Infinitivs und des Partizips.

Die Partizipialien: der Infinitiv und das Partizip sind diejenigen Verbalformen, welche den Verbalbegriff, von der Modus- und Personalbezeichnung getrennt, in substantivischer und adjektivischer Form und Bedeutung ausdrücken. Der Infinitiv bezeichnet den Verbalbegriff als einen abstrakten Substantivbegriff, das Partizip als einen Adjektivbegriff: weshalb der Infinitiv verbales Substantiv und das Partizip verbales Adjektiv genannt werden kann. Die substantivische Natur des Infinitivs zeigt sich auch darin, dass er sich wie das Substantiv mit dem Artikel verbinden kann. Die Partizipialien unterscheiden sich aber dadurch von dem Substantive und dem Adjektive, dass sie zugleich verbales Leben und Wesen in sich tragen, indem sie einerseits die unterschiedene Beschaffenheit des verbalen Thätigkeitsbegriffes: Unvollendetes, Vollendetes, Bevorstehendes und einfach bloss Geschehenes oder bloss Geschehendes durch unterschiedene Formen bezeichnen (§ 389) und aktive, mediale und passive Formen haben; andererseits an der Konstruktion des Verbs teilnehmen, indem sie die Rektion ihrer Verben haben, als: γράφειν (γράφων) ἐπιστολήν, ἐπιθυμεῖν (ἐπιθυμῶντῆς ἀρετῆς, μάχεσθαι (μαχόμενος) τοῖς πολεμίοις, und sich selbst mit dem Modaladverb ἄν verbinden können (§ 398, 1 u. 2), und der Infinitiv vermöge des in ihm liegenden verbalen Elementes die attributive Bestimmung nicht, wie das eigentliche Substantiv, in der Form eines attributiven Adjektivs oder Genetivs, sondern in der Form des Adverbs oder des Akkusativs zu sich nimmt, als: καλῶς ἀποθανεῖν (hingegen καλὸς θάνατος), ἄρχειν βασιλέα, ein Herrschen eines Königs (hingegen ἀρχὴ βασιλέως).

Die adjektivische Natur des Partizips tritt sowohl in der Form, die mit der des Adjektivs übereinstimmt, als in dem

Gebrauche, nach dem es als ein Attributiv auf ein Substantiv bezogen wird, klar hervor. Die Infinitive sind, worauf schon die unverkennbare Verwandtschaft des Ausgangs μεναι mit dem Partizipialsuffix μενο, sowie die Endung αι in μεναι, ναι, σαι, σθαι deutlich hinweist, erstarrte Kasusformen von Verbalnominen (vgl. § 210, 8), und zwar Dative1), die ursprünglich dazu dienten, in final-konsekutivem Sinne das Ziel und die erstrebte oder mögliche Folge einer Handlung ergänzend hinzuzufügen, wie d, 260 ἤδη μοι κραδίη τέτραπτο νέεσθαι, der Heimkehr zu. q, 20 καί μιν μακρότερον καὶ πάσσονα θῆκεν ἰδέσθαι, für den Anblick, visu. x, 476 μήδεά τ᾽ ἐξέρυσαν κυσὶν ὠμὰ δάσασθαι, für die Hunde zum Zerfleischen. x, 305 μέγα ῥέξας τι καὶ ἐσσομένοισι πυθέσθαι, für die Nachwelt zur Kunde. Allerdings war der nominale Charakter dieser vereinzelten Kasusbildungen dem Bewusstsein schon frühzeitig entschwunden. Da derartige Verbalnomina bereits in vorgriechischer Zeit nicht nur aus den Wurzeln, sondern aus allen zur Bildung von Tempusstämmen verwandten Elementen hervorgingen (στή-μεναι, ἱστάμεναι, ἑστά-μεναι) und da sie ferner, wie das Verbalnomen überhaupt (vgl. § 424), von vornherein die Neigung hatten, der Kasusrektion des entsprechenden Verbs zu folgen; so wurden sie allmählich als zum Verbalsystem gehörig empfunden und erhielten infolgedessen zuletzt auch Teil an dem Unterschiede der Genera verbi (wovon sich in den arischen Sprachen noch keine Spur findet). Indem die dativische Funktion immer mehr verblasste, erweiterte sich die Verwendung des Infinitivs dahin, dass er überhaupt als verbale Ergänzung eines Verbalbegriffes, und zwar vorwiegend in akkusativischem Sinne (ἐλπίζω νικήσειν = spero victoriam) diente, bis er endlich (doch bei Homer nur erst in vereinzelten Anfängen) auch als Subjekt der Aussage erschien und damit zu seiner eigentlichen Natur als abstraktes Substantivum wieder zurückkehrte. Die letzte Stufe in dieser Entwickelung bezeichnet die Vorsetzung des Artikels. (Smyth 2039)

Der Infinitiv mit dem Artikel hat sich erst später [in der nachhomerischen Sprachperiode, s. § 457, 6, a)] entwickelt. Durch ihn wird der Substantivbegriff des Infinitivs weit bestimmter bezeichnet. Er unterscheidet sich von dem Verbalsubstantive eigentlich nur dadurch, dass er den abstrakten Begriff allgemeiner ausdrückt und regelmässig an der Konstruktion des Verbs teilnimmt; in jeder anderen Hinsicht stimmt er mit dem Substantive überein und kann daher dieselben Beziehungsverhältnisse, welche durch die Kasus des Substantivs ausgedrückt werden, bezeichnen.

Anmerk. Nach dem oben Bemerkten würden bei einer dem Gange der historischen Entwickelung folgenden Anordnung diejenigen Fälle an die Spitze zu stellen sein, in denen der Infinitiv als Ergänzung der ganzen Satzaussage auftritt, weil hier seine final-konsekutive Natur noch deutlich erkennbar ist; vgl. ausser den unter No. 2 angeführten Beispielen i, 143 οὐδὲ προυφαίνετ᾽ ἰδέσθαι es war nicht hell zum Sehen. *q, 223 ῤ̔ ἐν μεσσάτῳ ἔσκε γεγωνέμεν ἀμφοτέρωσεsodass man sich vernehmlich machen konnte”. a, 410 οὐδ᾽ ὑπέμεινεν γνώμεναι. *s, 507 κεῖτο δ̓ ἄρ᾽ ἐν μέσσοισι δύω χρυσοῖοι τάλαντα, | τῷ δόμεν ὃς μετὰ τοῖσι δίκην ἰθύντατα εἴποιdass man sie gäbe”. P. Phaedr. 229b ἐκεῖ σκιά τ᾽ ἐστὶ καὶ πνεῦμα μέτριον καὶ πόα καθίζεσθαι, um sich niederzulassen. So in Prosa namentlich der Infinitiv der Bestimmung bei den Verben des Nehmens, Gebens, Schickens, Wählens (§ 473, 7). Die zweite Stelle würden sodann die Fälle einnehmen, wo der Infinitiv in immer weitergehender Abschwächung des dativischen Sinnes als Ergänzung von einzelnen Begriffen erscheint: von Substantiven und Adjektiven wie l, 330 ὥρη εὕδειν Zeit zum Schlafen, Ε 725 θαῦμα ἰδέσθαι mirabile visu, Μ, 63 (τάφρος) ἀργαλέη περάαν difficilis transitu, S. OR. 792 ἄτλητον-ὁρᾶν intolerabile visu (§ 473, 5 u. 6), von Verben wie δύνασθαι, ἐθέλειν u. a. (§ 473, 2 u. 3), bei denen der Infinitiv allmählich immer mehr in die Stellung eines akkusativischen Objekts einrückte, je mehr sich ihre sinnliche Bedeutung verdunkelte (δύναμαι, βούλομαι ἰέναι urspr. ich habe Kraft, Lust zum Gehendann: ich kann, will gehen); zuletzt von den verba sentiendi und declarandi (§ 473, 1), bei denen diese Entwickelung abgeschlossen erscheint, und von den erst nach Homer auftretenden Verben des Geschehens (§ 473, 4), bei denen der Infinitiv zwar logisch als Subjekt betrachtet werden kann, von der Sprache aber nicht als solches empfunden wurde (vgl. συμβαίνει ὥστε, evenit ut). Den Schluss würde die Verwendung des Infinitivs als wirkliches Subjekt bilden, zu der bei Homer sich nur ganz vereinzelte Ansätze finden. Aus praktischen Gründen ist jedoch im folgenden die bisherige Anordnung beibehalten worden.(Smyth 1966)

1 Vgl. ausser den § 210, 8 Note 1 S. 56 angeführten Schriften besonders Jolly, Geschichte des Infinitivs im Indogermanischen, München 1873. Meierheim, de infinitivo Homerico, Göttingen 1875 u. Lingen 1876, und dazu Capelle im Philol. XXXVII (1877) S. 89 ff. — Lokativische Funktionen des Infinitivs sind nicht mit Sicherheit nachzuweisen.

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