previous next



381. Übersicht der Zeitformen.

Die griechischen Verbalformen bringen nicht nur die Zeitstufe, d. h. das Zeitverhältnis der Handlung zur Gegenwart des Redenden, zum Ausdruck (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft), sondern auch die Beschaffenheit der Handlung (Aktionsart), indem sie den Vorgang entweder als Faktum schlechthin oder als in der Entwickelung begriffen oder als vollendet darstellen.

Den drei Aktionsarten entsprechen die drei Tempusstämme des Aorists, des Präsens und des Perfekts.

Die Formen des Aoriststammes bezeichnen den Vorgang als Faktum schlechthin, d. h. als eine in sich abgeschlossene, “in einem ungeteilten Denkakte ganz und vollständig vorzustellende Handlung1) (momentane Aktion): φυγεῖν entfliehen, ἀποθανεῖν sterben, πόλις ἐτειχίσθη die Stadt wurde befestigt.

Die Formen des Präsensstammes schildern den Vorgang in seiner Entwickelung, seinem Verlaufe, ohne Rücksicht auf den Abschluss dieser Entwickelung (durative Aktion): φεύγειν sich auf der Flucht befinden, ἀποθνῄσκειν im Sterben liegen, πόλις ἐτειχίζετο man war mit der Befestigung der Stadt beschäftigt.

Die Formen des Perfektstammes stellen den aus der vollendeten Handlung hervorgegangenen Zustand dar (perfektische Aktion): πεφευγέναι entflohen, in Sicherheit sein, τεθνάναι tot sein, πόλις ἐτετείχιστο die Stadt war befestigt.2

Mit diesem Bedeutungsunterschiede der drei Tempusstämme steht auch ihre verschiedene Bildungsweise im Einklange: der Aorist, der das Faktum schlechthin, ohne die Nebenbeziehungen der Entwickelung oder der Vollendung bezeichnet, stellt in der älteren Bildungsweise (Aor. II) den Verbalstamm dar, während die übrigen Tempora bei fast allen Verben eine erweiterte Stammform aufweisen, vgl. φυγ-εῖν u. φεύγ-ειν, βαλ-εῖν u. βάλλ-ειν, τεμ-εῖν u. τέμν-ειν, τυχ-εῖν u. τυγχάν-ειν, θαν-εῖν u. θνῄσκ-ειν, θέ-σθαι u. τίθε-σθαι, μιγ-ῆναι u. μίγνυ-σθαι, τυπ-ῆναι u. τύπτ-εσθαι.

Anmerk. Eine die Sache vollständig deckende Terminologie für die drei Aktionen fehlt. Die Ausdrücke momentan und durativ sind nicht so zu verstehen, als ob der Aoriststamm immer eine Handlung von kurzer Dauer, der Präsensstamm eine solche von langer Dauer bezeichnete, sondern sie werden hier in dem Sinne gebraucht, dass die aoristische Handlung gleichsam mit einem Blicke vom Anfangs- bis zum Endpunkte überschaut wird und so in einen Moment zusammengedrängt erscheint, die präsentische Handlung dagegen sich während ihrer (wenn auch kurzen) Dauer vor uns entfaltet, ohne dass der Endpunkt in den Gesichtskreis tritt.

Nur die Indikative bringen gleichmässig sowohl die Aktionsart wie die Zeitstufe zum Ausdruck; die übrigen Formen bezeichnen nur die Aktionsart, während die Zeitstufe aus dem Zusammenhange der Rede erschlossen werden muss.

Für die momentane Aktion existiert keine Form der Gegenwart, weil eine gegenwärtige Handlung nicht als abgeschlossen in dem oben besprochenen Sinne gelten kann, sondern stets in ihrem Verlaufe angeschaut wird. Das Futur vereinigt in sich sowohl die momentane als die durative Aktion: φεύξομαι ich werde entfliehen und ich werde auf der Flucht sein. (Über das mediale und passive Futur s. § 376, 3 u. 4).(Smyth 1850)

Hiernach ergiebt sich folgendes System von Formen:

I. Zeitformen der Gegenwart:

a) momentan: —

b) durativ: Praesens, φεύγω ich bin auf der Flucht;

c) perfektisch: Perfectum, πέφευγα ich bin entflohen (bin in Sicherheit).

II. Zeitformen der Vergangenheit:

a) momentan: Aoristus, ἔφυγον ich entfloh;

b) durativ: Imperfectum, ἔφευγον ich war auf der Flucht;

c) perfektisch: Plusquamperfectum, ἐπεφεύγειν ich war entflohen (war in Sicherheit).

III. Zeitformen der Zukunft:

a) momentan: Futurum, φεύξομαι ich werde entfliehen;

b) durativ: Futurum, φεύξομαι ich werde auf der Flucht sein;

c) perfektisch: Futurum exactum, τεθνήξω ich werde tot sein. (Smyth 1851, 1852)

Ferner werden die Zeitformen eingeteilt in Haupttempora und Nebentempora.

a) Haupttempora nennt man alle Zeitformen, die sich auf die Gegenwart oder Zukunft beziehen: die Indikative des Präsens, des Perfekts und des Futurs, der sogen. gnomische Aorist, sowie sämtliche Konjunktive, Optative und Imperative.

b) Nebentempora oder historische Tempora sind alle Zeitformen, die sich auf die Vergangenheit beziehen: der Indikativ des Aorists, das Imperfekt und Plusquamperfekt (sowie das Praesens historicum, vgl. § 382, 2).(Smyth 1858)

Gebrauch der Zeitformen.

1 Vgl. Moller, Philologus VIII, 1853, S. 120.

2 Gegen diese von Curtius in den Erläuterungen zu seiner griech. Schulgrammatik weiter begründete und seitdem üblich gewordene Annahme von drei Aktionsarten wendet sich Kohlmann im Progr. v. Eisleben 1881: Über das Verhältnis der Tempora des lateinischen Verbums zu denen des griechischen, indem er nur zwei Arten der Handlung gelten lässt: die dauernde und die absolute.

hide Display Preferences
Greek Display:
Arabic Display:
View by Default:
Browse Bar: